Er führte mich durch Asgards Stätte
und wir kamen an eine schwere Tür, die mit Frost überzogen war. Mit
fragendem Blick sah ich den verschlossenen Durchgang an und wandte
mich dann an meinen Begleiter. Der Ase reichte mir einen mit Pelz
besetzten Mantel. „Hier, den wirst du brauchen.“ Zögernd nahm
ich ihn an und spürte kurz darauf, das weiche, warme Fell an Armen
und Rücken. 'Es ist doch warm', wollte ich noch sagen, da ich nicht
glaubte, dass es hier sowas wie einen Tiefkühlraum gab. Doch bevor
ich auch nur ein Wort herausbrachte, hatte er sich einen zweiten
Mantel übergezogen und die Tür aufgedrückt, von dessen anderer
Seite nun eine eisige Kälte zu mir vordrang.
Vorsichtig lugte ich in
einen weiteren Gang, der sich vor mir auftat. Mit einem letzten
unsicheren Blick folgte ich ihm und hörte nach ein paar Schritten
noch das Klicken der zufallenden Tür hinter mir, bevor uns der
fortführende Weg verschluckte. Es dauerte nicht lange, da kamen wir
schon in einen weitläufigen Raum, der mir den Atem raubte. Überall
war Eis, hing von der Decke, klebte an Wänden und Boden und überzog
die wenigen Möbel darin, die kaum mehr als solche zu erkennen waren.
Sie waren nur riesige Eisklötze, in der Zeit erstarrt. Als ich
weiter in diese sagenhafte Halle – denn genau das war sie und
nichts anderes – trat, sah ich mich ungläubig und staunend um und
bemerkte gar nicht, wie der Ase an der Tür stehen blieb. Hätte ich
mich zu ihm herumgedreht, so wäre mir vielleicht sein nervöser
Blick aufgefallen, fast so, als hätte er Angst vor etwas. Aber wovor
sollte er sich hier denn fürchten? Das einzige, was uns zur Gefahr
werden könnte, war die Kälte. Und selbst davor schützten uns noch
die dicken Mäntel. Also kein Grund zur Sorge. Da mein Blick aber
nunmal anderen Dingen galt, zum Beispiel dem stetigen Glitzern und
Spiegeln um mich herum, bemerkte ich seine Haltung nicht. Stattdessen
drang ich immer weiter vor, setzte behutsam einen Fuß vor den
anderen, um nicht auf der spiegelglatten Oberfläche auszurutschen,
und näherte mich einem bizarren Gebilde, das etwas von einer
Standuhr hatte. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar die Umrisse
der Zeiger und Ziffern erkennen. Das gefrorene Wasser drumherum
umschloss das Holz mindestens auf eine Dicke von fünf Zentimetern.
Ich hob die Hand... und blinzelte. Zögernd verharrte ich und legte
den Kopf schief. Hatte ich eben etwas gehört? Mit gerunzelter Stirn
sah ich mich nun doch um. Der Ase hatte sich nicht von der Stelle
gerührt und wartete geduldig. 'Weshalb hast du mich hierher geführt?
/ Warum zeigst du mir das alles?', wollte ich fragen, als ich erneut
dieses Wispern vernahm. Von ihm kam es jedenfalls nicht. Eher von dem
Tisch dort drüben. Oder von dem, was einmal ein Tisch hatte sein
sollen. Erschrocken holte ich Luft und wollte ausrufen, doch im
nächsten Augenblick war die Gestalt wieder verschwunden, die eben
noch dort gesessen und mit ihrem blassen, fahlen Gesicht starr auf
die Tischplatte vor sich geschaut hatte. Hatte ich mir das etwa nur
eingebildet? Um mich herum geschahen in letzter Zeit viele
merkwürdige Dinge, vor allem wenn ich in Asgard war. Also wäre es
gut möglich, dass es ein Geist... 'Ach, sei doch nicht albern!',
schalt ich mich im selben Gedankenzug und schüttelte über meine
eigene Dummheit den Kopf. Erneut wollte ich mich abwenden, dann
geschah es schon wieder. Diesmal legte sich eine Kälte über mich,
die selbst die schützende Wärme durchdrang und eine Gänsehaut über
meinen Körper zog. Gab es einen weiteren Ausgang oder konnte hier
jemand eine Eiszeit im Inneren des Palastes erzeugen? Keuchend
streckte ich meinen Arm aus, als ein leichter Schwindel mich wegen
des plötzlichen Kälteangriffs überkam. Meine Hand legte sich auf
das trockene Eis der Standuhr. Und die Zeit stand still. Für einen
Moment hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz aufhören zu
schlagen. Und alles mit ihm. Die Atemwölkchen vor meinem Gesicht
stiegen nicht auf und blieben erstarrt. Der Ase verschwand aus meinem
Blickfeld und es gab nur noch das Eis und mich. Mit einem kräftigen
Augenzwinkern versuchte ich wieder klar zu sehen. Da! Da war es schon
wieder! Eben hatte die geisterhafte Gestalt noch ein Gesicht gehabt,
nun war sie kaum mehr als ein Schatten.
In diesem Moment dachte ich wirklich
daran, den Verstand zu verlieren. Was sonst sollte es sein? Mir waren
in letzter Zeit so viele unglaubliche Dinge passiert, dass man mich
wohl umgehend in die Irrenanstalt einweisen würde, käme ich damit
an die Öffentlichkeit meiner Welt. Ja, meine Welt. Lyrra, oder wie
die Menschen sie nennen: Erde. Nicht gerade die beste Wahl wie ich
meine, denn Asgard besitzt im Gegenzug schon fast einen
majestätischen Klang. Kein Wunder, wenn wir die Bewohner diesen
Ortes als unsere Götter betrachten. Und nun war ich hier. In Asgard.
Dem Paradies nordgermanischer Mythen. Und ich sah Geister im Eis!
„Wir sind keine Geister“, erklang
eine Stimme zu mehreren. Keine Geister? „Zumindest nicht so, wie du
sie aus den Märchen deiner Welt kennst.“ Märchen? Also bitte,
jeder wusste doch, dass ab und zu merkwürdige Dinge geschahen, die
unerklärlich blieben und somit den gruseligen, paranormalen
Gestalten zugewiesen wurden. „Wir hatten erwartet, dass du deinen
Weg hierher früher findest“, schallte es wieder, aber ich konnte
mich immer noch nicht rühren. Ob es daran lag, dass ich zusammen mit
dem Eis erstarrt, einfach nur verblüfft oder selbst zu Eis erstarrt
war, konnte ich nicht sagen. Selbst die Worte bewegten sich nicht.
Nur in meinem Kopf. Formten Sätze, Fragen und noch mehr Fragen, bis
sie sich überschlugen und ineinander verschlangen. „Es ist zu
früh“, wisperte es. „Wir können es ihr nicht sagen“, klang es
besorgt. „Ach was, sie wird schon drüber hinweg kommen“, zischte
es von woanders. „Wir haben nun schon zu lange darauf gewartet...“
Die Stimmen teilten sich und schienen nun von überallher zu kommen.
Was wollten sie? Wen stellten sie dar? Hätte ich irgendetwas anderes
außer größter Verwirrung spüren können, würde mein Kopf vor
lauter Überlegungen nun platzen. Aber ich wurde weiterhin von dieser
unsichtbaren Zeitverschiebung festgehalten. Ein tosender Wind brachte
das Stimmengewirr zum Schweigen und eine kräftigere Intonation löste
sich von den anderen. „Wehre dich nicht gegen deine Bestimmung,
denn die Kraft dessen wird dich sonst zerstören.“ Na, das klang ja
großartig. Wenn mich die Rede beruhigen sollte, traf dieser
Nicht-Geist vollkommen daneben. „Öffne dich der Wahrheit und lasse
Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in dich hinein.“ Was sollte
das denn heißen? Wollte er mich zu einer Art lebende Zeitmaschine
machen? „Lasse dich von uns führen“, damit ihr mich gleich ins
Irrenhaus schicken könnt? Never! „Und führe die...“
Ein stechender Schmerz fuhr durch meine
Schulter und weckte mich. Mit einem erstickten Schrei sank ich auf
die Knie und nahm die Hand vom Eis, aber bevor ich auf dem harten,
gefrorenen Boden aufkam, packte mich jemand unter den Armen und fing
mich ab. „Sura?“, erkannte ich die besorgte Frage. Den Asen hatte
ich komplett vergessen! Verwirrt sah ich erst ihn an, dann die
Stelle, wo der Schatten eben noch gewesen war. Leer. Hatte ich doch
nur geträumt oder irgendein Halluzinogen eingeatmet? „Was ist
passiert?“, brachte ich mit einem Flüstern heraus. „Du... hast
nicht geantwortet.“ Er nahm meine Hände und ich zuckte zusammen,
als er bei der Begutachtung ihrer über die blaue Haut strich. In
seinem Blick veränderte sich etwas und es war nicht nur eine
gewöhnliche Besorgnis über die Verletzungen. Damals konnte ich es
noch nicht deuten und ich glaube, es war auch besser so, sonst hätte
ich schleunigst das Weite gesucht. Er wusste es. Er wusste, wer ich
war. „Sura“, sprach er mich ein weiteres Mal an, als ich mit
meinen Gedanken abschweifte. „Ja? Oh...“ Es tat nur halb so weh,
wie ich es erwartet hatte, aber der Schmerz würde mit der Wärme
kommen und der Heilung schneller wieder vergehen, als er gekommen
war. „Wir sollten gehen und deine Wunden versorgen.“ Mit einem
sanften, jedoch deutlichen Ziehen, führte er mich aus dem Raum, ohne
einen Blick zurückzuwerfen. Das prickelnden, beinahe
unangenehme Gefühl im Rücken, als würde uns jemand beim Gehen
beobachten, begleitete mich, als wir auch die restliche Kälte hinter uns ließen und auf den ursprünglichen Gang hinaustraten. Die Mäntel brauchten wir
nun nicht mehr, ließen sie aber trotzdem an und eilten davon, um
sich meiner Hände anzunehmen.
Das erste Mal hatte ich mich vielleicht
am Eis verbrannt, doch die nächsten Male sollten mich davor schützen
und die bisher schlafende Macht, die mir weitergegeben wurde,
anfachen. Manchmal sollten Wahrheiten dort bleiben, wo sie vergraben
waren. Um keinen Preis aber mit gefährlichen Lügen überdeckt, die
später viele Leben kosten könnten...
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