Eispalast | Asgard #01


Er führte mich durch Asgards Stätte und wir kamen an eine schwere Tür, die mit Frost überzogen war. Mit fragendem Blick sah ich den verschlossenen Durchgang an und wandte mich dann an meinen Begleiter. Der Ase reichte mir einen mit Pelz besetzten Mantel. „Hier, den wirst du brauchen.“ Zögernd nahm ich ihn an und spürte kurz darauf, das weiche, warme Fell an Armen und Rücken. 'Es ist doch warm', wollte ich noch sagen, da ich nicht glaubte, dass es hier sowas wie einen Tiefkühlraum gab. Doch bevor ich auch nur ein Wort herausbrachte, hatte er sich einen zweiten Mantel übergezogen und die Tür aufgedrückt, von dessen anderer Seite nun eine eisige Kälte zu mir vordrang.
Vorsichtig lugte ich in einen weiteren Gang, der sich vor mir auftat. Mit einem letzten unsicheren Blick folgte ich ihm und hörte nach ein paar Schritten noch das Klicken der zufallenden Tür hinter mir, bevor uns der fortführende Weg verschluckte. Es dauerte nicht lange, da kamen wir schon in einen weitläufigen Raum, der mir den Atem raubte. Überall war Eis, hing von der Decke, klebte an Wänden und Boden und überzog die wenigen Möbel darin, die kaum mehr als solche zu erkennen waren. Sie waren nur riesige Eisklötze, in der Zeit erstarrt. Als ich weiter in diese sagenhafte Halle – denn genau das war sie und nichts anderes – trat, sah ich mich ungläubig und staunend um und bemerkte gar nicht, wie der Ase an der Tür stehen blieb. Hätte ich mich zu ihm herumgedreht, so wäre mir vielleicht sein nervöser Blick aufgefallen, fast so, als hätte er Angst vor etwas. Aber wovor sollte er sich hier denn fürchten? Das einzige, was uns zur Gefahr werden könnte, war die Kälte. Und selbst davor schützten uns noch die dicken Mäntel. Also kein Grund zur Sorge. Da mein Blick aber nunmal anderen Dingen galt, zum Beispiel dem stetigen Glitzern und Spiegeln um mich herum, bemerkte ich seine Haltung nicht. Stattdessen drang ich immer weiter vor, setzte behutsam einen Fuß vor den anderen, um nicht auf der spiegelglatten Oberfläche auszurutschen, und näherte mich einem bizarren Gebilde, das etwas von einer Standuhr hatte. Wenn man genau hinsah, konnte man sogar die Umrisse der Zeiger und Ziffern erkennen. Das gefrorene Wasser drumherum umschloss das Holz mindestens auf eine Dicke von fünf Zentimetern. Ich hob die Hand... und blinzelte. Zögernd verharrte ich und legte den Kopf schief. Hatte ich eben etwas gehört? Mit gerunzelter Stirn sah ich mich nun doch um. Der Ase hatte sich nicht von der Stelle gerührt und wartete geduldig. 'Weshalb hast du mich hierher geführt? / Warum zeigst du mir das alles?', wollte ich fragen, als ich erneut dieses Wispern vernahm. Von ihm kam es jedenfalls nicht. Eher von dem Tisch dort drüben. Oder von dem, was einmal ein Tisch hatte sein sollen. Erschrocken holte ich Luft und wollte ausrufen, doch im nächsten Augenblick war die Gestalt wieder verschwunden, die eben noch dort gesessen und mit ihrem blassen, fahlen Gesicht starr auf die Tischplatte vor sich geschaut hatte. Hatte ich mir das etwa nur eingebildet? Um mich herum geschahen in letzter Zeit viele merkwürdige Dinge, vor allem wenn ich in Asgard war. Also wäre es gut möglich, dass es ein Geist... 'Ach, sei doch nicht albern!', schalt ich mich im selben Gedankenzug und schüttelte über meine eigene Dummheit den Kopf. Erneut wollte ich mich abwenden, dann geschah es schon wieder. Diesmal legte sich eine Kälte über mich, die selbst die schützende Wärme durchdrang und eine Gänsehaut über meinen Körper zog. Gab es einen weiteren Ausgang oder konnte hier jemand eine Eiszeit im Inneren des Palastes erzeugen? Keuchend streckte ich meinen Arm aus, als ein leichter Schwindel mich wegen des plötzlichen Kälteangriffs überkam. Meine Hand legte sich auf das trockene Eis der Standuhr. Und die Zeit stand still. Für einen Moment hatte ich das Gefühl, als würde mein Herz aufhören zu schlagen. Und alles mit ihm. Die Atemwölkchen vor meinem Gesicht stiegen nicht auf und blieben erstarrt. Der Ase verschwand aus meinem Blickfeld und es gab nur noch das Eis und mich. Mit einem kräftigen Augenzwinkern versuchte ich wieder klar zu sehen. Da! Da war es schon wieder! Eben hatte die geisterhafte Gestalt noch ein Gesicht gehabt, nun war sie kaum mehr als ein Schatten.
In diesem Moment dachte ich wirklich daran, den Verstand zu verlieren. Was sonst sollte es sein? Mir waren in letzter Zeit so viele unglaubliche Dinge passiert, dass man mich wohl umgehend in die Irrenanstalt einweisen würde, käme ich damit an die Öffentlichkeit meiner Welt. Ja, meine Welt. Lyrra, oder wie die Menschen sie nennen: Erde. Nicht gerade die beste Wahl wie ich meine, denn Asgard besitzt im Gegenzug schon fast einen majestätischen Klang. Kein Wunder, wenn wir die Bewohner diesen Ortes als unsere Götter betrachten. Und nun war ich hier. In Asgard. Dem Paradies nordgermanischer Mythen. Und ich sah Geister im Eis!
„Wir sind keine Geister“, erklang eine Stimme zu mehreren. Keine Geister? „Zumindest nicht so, wie du sie aus den Märchen deiner Welt kennst.“ Märchen? Also bitte, jeder wusste doch, dass ab und zu merkwürdige Dinge geschahen, die unerklärlich blieben und somit den gruseligen, paranormalen Gestalten zugewiesen wurden. „Wir hatten erwartet, dass du deinen Weg hierher früher findest“, schallte es wieder, aber ich konnte mich immer noch nicht rühren. Ob es daran lag, dass ich zusammen mit dem Eis erstarrt, einfach nur verblüfft oder selbst zu Eis erstarrt war, konnte ich nicht sagen. Selbst die Worte bewegten sich nicht. Nur in meinem Kopf. Formten Sätze, Fragen und noch mehr Fragen, bis sie sich überschlugen und ineinander verschlangen. „Es ist zu früh“, wisperte es. „Wir können es ihr nicht sagen“, klang es besorgt. „Ach was, sie wird schon drüber hinweg kommen“, zischte es von woanders. „Wir haben nun schon zu lange darauf gewartet...“ Die Stimmen teilten sich und schienen nun von überallher zu kommen. Was wollten sie? Wen stellten sie dar? Hätte ich irgendetwas anderes außer größter Verwirrung spüren können, würde mein Kopf vor lauter Überlegungen nun platzen. Aber ich wurde weiterhin von dieser unsichtbaren Zeitverschiebung festgehalten. Ein tosender Wind brachte das Stimmengewirr zum Schweigen und eine kräftigere Intonation löste sich von den anderen. „Wehre dich nicht gegen deine Bestimmung, denn die Kraft dessen wird dich sonst zerstören.“ Na, das klang ja großartig. Wenn mich die Rede beruhigen sollte, traf dieser Nicht-Geist vollkommen daneben. „Öffne dich der Wahrheit und lasse Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft in dich hinein.“ Was sollte das denn heißen? Wollte er mich zu einer Art lebende Zeitmaschine machen? „Lasse dich von uns führen“, damit ihr mich gleich ins Irrenhaus schicken könnt? Never! „Und führe die...“
Ein stechender Schmerz fuhr durch meine Schulter und weckte mich. Mit einem erstickten Schrei sank ich auf die Knie und nahm die Hand vom Eis, aber bevor ich auf dem harten, gefrorenen Boden aufkam, packte mich jemand unter den Armen und fing mich ab. „Sura?“, erkannte ich die besorgte Frage. Den Asen hatte ich komplett vergessen! Verwirrt sah ich erst ihn an, dann die Stelle, wo der Schatten eben noch gewesen war. Leer. Hatte ich doch nur geträumt oder irgendein Halluzinogen eingeatmet? „Was ist passiert?“, brachte ich mit einem Flüstern heraus. „Du... hast nicht geantwortet.“ Er nahm meine Hände und ich zuckte zusammen, als er bei der Begutachtung ihrer über die blaue Haut strich. In seinem Blick veränderte sich etwas und es war nicht nur eine gewöhnliche Besorgnis über die Verletzungen. Damals konnte ich es noch nicht deuten und ich glaube, es war auch besser so, sonst hätte ich schleunigst das Weite gesucht. Er wusste es. Er wusste, wer ich war. „Sura“, sprach er mich ein weiteres Mal an, als ich mit meinen Gedanken abschweifte. „Ja? Oh...“ Es tat nur halb so weh, wie ich es erwartet hatte, aber der Schmerz würde mit der Wärme kommen und der Heilung schneller wieder vergehen, als er gekommen war. „Wir sollten gehen und deine Wunden versorgen.“ Mit einem sanften, jedoch deutlichen Ziehen, führte er mich aus dem Raum, ohne einen Blick zurückzuwerfen. Das prickelnden, beinahe unangenehme Gefühl im Rücken, als würde uns jemand beim Gehen beobachten, begleitete mich, als wir auch die restliche Kälte hinter uns ließen und auf den ursprünglichen Gang hinaustraten. Die Mäntel brauchten wir nun nicht mehr, ließen sie aber trotzdem an und eilten davon, um sich meiner Hände anzunehmen.
Das erste Mal hatte ich mich vielleicht am Eis verbrannt, doch die nächsten Male sollten mich davor schützen und die bisher schlafende Macht, die mir weitergegeben wurde, anfachen. Manchmal sollten Wahrheiten dort bleiben, wo sie vergraben waren. Um keinen Preis aber mit gefährlichen Lügen überdeckt, die später viele Leben kosten könnten...
words: 1427


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